In seinem Buch AI Aesthetics (2018) analysiert Lev Manovich die tiefgreifenden Veränderungen, die künstliche Intelligenz (KI) in den Bereichen Kultur und ästhetischer Gestaltung bewirkt. KI ist längst nicht mehr nur ein Instrument der Automatisierung kognitiver Prozesse, sondern spielt eine entscheidende Rolle in der Kreation, Selektion und Distribution kultureller Inhalte. Diese Entwicklung wirft zentrale Fragen über die Zukunft der ästhetischen Vielfalt auf: Führt KI zur Standardisierung künstlerischer Ausdrucksformen, oder erhöht sie die Vielfalt an Stilen und Ideen?
Die kulturelle Funktion von KI
Traditionell wurde KI als eine Technologie verstanden, die menschliches Denken nachahmt und automatisiert. Heute erstreckt sich ihr Einfluss weit über diesen Ursprung hinaus. Algorithmen beeinflussen, welche Inhalte Nutzer:innen konsumieren, welche Musik sie hören, welche Filme sie empfohlen bekommen und sogar, wie sie ihre eigenen kreativen Entscheidungen treffen. Plattformen wie Instagram, Spotify oder YouTube setzen KI ein, um personalisierte Empfehlungen zu generieren. Dabei werden ästhetische Vorlieben auf Basis aggregierter Daten modelliert, was zu einer Homogenisierung des Geschmacks führen kann. Gleichzeitig ermöglichen digitale Werkzeuge die Produktion personalisierter, einzigartiger Inhalte.
Ein Schlüsselkonzept in Manovichs Analyse ist die Idee der „ästhetischen Automatisierung“. Hierbei werden ästhetische Entscheidungen zunehmend von Algorithmen getroffen, sei es in der Fotografie, Musik oder im Design. Beispielsweise ermöglichen Fotobearbeitungsapps wie EyeEm eine automatische Bewertung der Bildqualität und können Bilder an populäre Standards anpassen. Huawei experimentierte mit einer KI-Jury für Fotowettbewerbe, wobei die Maschine die besten Bilder anhand vorher trainierter Parameter auswählte (Manovich 2018, 4).
KI und die ästhetische Vielfalt
Ein zentrales Argument Manovichs ist die Frage, ob KI langfristig zu einer Verringerung oder Erhöhung der ästhetischen Vielfalt führt. Einerseits könnte die Nutzung von standardisierten KI-Tools dazu führen, dass immer ähnliche Bilder, Designs oder Musikstile entstehen, da Algorithmen populäre Muster bevorzugen. Andererseits bieten digitale Plattformen den Nutzer:innen zahlreiche Anpassungsmöglichkeiten, die eine individuelle ästhetische Ausdrucksform ermöglichen. Fotobearbeitungsprogramme wie Photoshop oder Snapseed bieten eine Vielzahl an Filtern und Anpassungsmöglichkeiten, wodurch Nutzer:innen trotz automatisierter Vorschläge kreative Kontrolle behalten (Manovich 2018, 6).
Ein weiteres Beispiel ist die Nutzung von KI in der Filmproduktion. IBM Watson wurde eingesetzt, um den ersten „AI-made“ Filmtrailer zu erstellen. Dabei analysierte die KI 100 Horrorfilme, identifizierte zentrale Stilelemente und wählte die passenden Szenen für den Trailer aus. Dennoch musste ein menschliche:r Editor:in die finale Gestaltung übernehmen (Manovich 2018, 10). Dies zeigt, dass KI zwar zunehmend an der künstlerischen Produktion beteiligt ist, aber menschliche Kreativität noch nicht vollständig ersetzt.
Die Zukunft der kreativen KI
Ein wichtiger Aspekt von Manovichs Untersuchung ist die Rolle von KI als „Kulturtheoretiker“. Durch die Analyse großer Datensätze kann KI Muster in der Kulturproduktion identifizieren und Theorien entwickeln, die unser Verständnis von ästhetischer Entwicklung verändern könnten. So wurden bereits Algorithmen entwickelt, die künstlerische Stile erkennen oder die Evolution von Popmusik über Jahrzehnte hinweg analysieren können (Manovich 2018, 15).
Weiters betont Manovich, dass die Integration von KI in den kreativen Prozess sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich bringt. Während die Automatisierung von ästhetischen Entscheidungen zu einer potenziellen Standardisierung führen kann, können neue Werkzeuge und Methoden die künstlerische Vielfalt ebenso erweitern. Entscheidend ist, wie diese Technologien genutzt werden: als kreative Hilfsmittel oder als strenge Regulatoren des Geschmacks.
Herausforderungen und ethische Fragen
Die wachsende Rolle von KI in der Kulturproduktion bringt auch ethische Herausforderungen mit sich. Wer entscheidet, welche ästhetischen Präferenzen Algorithmen fördern? Gibt es eine Gefahr, dass KI-Systeme bestehende Vorurteile in Bezug auf Geschlecht, Ethnie oder sozioökonomischen Status reproduzieren? Diese Fragen sind besonders relevant in Bereichen wie der Mode- und Werbebranche, wo KI bereits aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden ist. Kritiker:innen argumentieren, dass algorithmische Systeme oft auf historischen Daten trainiert werden, die bereits bestehende Ungleichheiten widerspiegeln, was zu einer Verstärkung dieser Tendenzen führen kann.
Ein weiteres Problem ist die Abhängigkeit von datengetriebenen Systemen. Da viele kreative Prozesse zunehmend durch maschinelles Lernen unterstützt werden, besteht die Gefahr, dass individuelle und experimentelle Ausdrucksformen verdrängt werden. Wenn Algorithmen auf Basis von Mehrheitsgeschmack entscheiden, könnten neue, unkonventionelle Ideen schwerer Zugang zu großen Plattformen finden. Gleichzeitig eröffnen sich auch neue Möglichkeiten für die kreative Nutzung von KI. Künstlerinnen und Künstler experimentieren mit KI-gestützten Tools, um neue Formen der visuellen und musikalischen Gestaltung zu erforschen. Projekte wie Googles DeepDream oder OpenAIs DALL-E zeigen, dass maschinelles Lernen auch als Erweiterung menschlicher Kreativität dienen kann. Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass KI nicht nur eine Bedrohung für kulturelle Vielfalt darstellt, sondern auch als Werkzeug zur Erweiterung unseres ästhetischen Horizonts genutzt werden kann.
Literatur
Manovich, Lev. AI Aesthetics. Strelka Press, 2018.