26 // Musikvideos nach MTV

Musikvideos sind heute allgegenwärtig, insbesondere durch Plattformen wie YouTube und soziale Medien. Dennoch nimmt die akademische Forschung dieses Mediums oft nicht dieselbe prominente Stellung ein wie seine Popularität im kulturellen Diskurs. Mathias Bonde Korsgaards Buch Music Video After MTV: Audiovisual Studies, New Media, and Popular Music (2017) schließt diese Lücke, indem er Musikvideos nicht nur als kommerzielle Produkte betrachtet, sondern als eigenständige audiovisuelle Kunstform analysiert. Der Autor verfolgt einen interdisziplinären Ansatz, der Musikforschung, Medienwissenschaft und Kulturstudien verbindet.

Die Entwicklung des Musikvideos: Von MTV zur digitalen Ära

In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren spielten Musikvideos eine entscheidende Rolle in der Popkultur, insbesondere durch den Fernsehsender MTV. Mit dem Aufstieg des Internets und Plattformen wie YouTube erlebte das Musikvideo jedoch eine Transformation, die seine Produktions-, Distributions- und Rezeptionsweisen grundlegend veränderte. Korsgaard argumentiert, dass sich das Medium in einem „permanenten Zustand simultaner Krise und Erneuerung“ befinde: Während das klassische Musikvideo-Format in der Fernsehlandschaft an Relevanz verlor, erlebte es online eine zweite Blütezeit (Korsgaard 2017, 3).

Dieses Phänomen beschreibt er als „Post-Musikvideo“-Ära, in der neue Formen wie interaktive Videos, Musikvideo-Apps und nutzergenerierte Inhalte entstehen. Korsgaard zeigt auf, dass Musikvideos nicht nur als eigenständiges Medium zu betrachten sind, sondern dass sie zunehmend andere audiovisuelle Formate beeinflussen, von Film und Werbung bis hin zu digitalen Kunstprojekten.

Audiovisuelle Ästhetik und die „Musikalisierung der Vision“

Ein zentraler Beitrag des Buches ist Korsgaards Konzept der Musikalisierung der Vision. Während Musikvideos oft als visuelle Ergänzungen zu Songs wahrgenommen werden, argumentiert der Autor, dass das Zusammenspiel von Bild und Musik eine komplexere Beziehung aufweist. Die visuelle Gestaltung eines Musikvideos wird nicht nur durch das Narrativ oder die Ästhetik des Films, sondern durch die musikalische Struktur selbst geprägt (Korsgaard 2017, 62). Er illustriert dies anhand von Fallstudien zu Musikvideos von Künstlern wie Michel Gondry und Chris Cunningham, die audiovisuelle Techniken einsetzen, um musikalische Strukturen zu visualisieren. Zum Beispiel analysiert Korsgaard das Video zu Star Guitar von The Chemical Brothers, bei dem visuelle Elemente wie Landschaften und Bewegung strikt auf den Rhythmus der Musik abgestimmt sind (ebd., 73). Diese enge Verzahnung zwischen Ton und Bild unterscheidet das Musikvideo grundlegend von anderen audiovisuellen Medien wie dem Spielfilm. Während Filme oft auf lineare Erzählstrukturen setzen, arbeiten Musikvideos häufig mit assoziativen oder fragmentierten Bildern, die eher musikalische als narrative Prinzipien widerspiegeln.

Korsgaard argumentiert, dass Musikvideos in ihrer heutigen Form zunehmend hybride Räume schaffen, in denen verschiedene Medienformen miteinander verschmelzen. Dies zeigt sich besonders deutlich in interaktiven und immersiven Musikvideos, die auf digitalen Plattformen experimentelle audiovisuelle Erlebnisse ermöglichen (Korsgaard 2017, 144). Ein Beispiel hierfür ist das Musikvideo We Used to Wait von Arcade Fire, das als interaktive Web-Erfahrung konzipiert wurde. Durch die Nutzung von Google Maps und personalisierten Inhalten werden Zuschauer:innen in das Video eingebunden, wodurch eine neue Form der Medienrezeption entsteht (ebd., 106). Darüber hinaus thematisiert Korsgaard die Rolle von User-Generated Content, Remixen und viralen Trends, die dazu beitragen, dass Musikvideos nicht mehr als abgeschlossene Werke betrachtet werden, sondern als fluides, partizipatives Medium. Diese Entwicklung steht im Einklang mit der zunehmenden Medienkonvergenz, in der Grenzen zwischen Film, Musik, Werbung und Social Media immer weiter verschwimmen.

Relevanz der Musikvideoforschung in der digitalen Kultur

Korsgaards Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur akademischen Beschäftigung mit Musikvideos, indem es zeigt, dass diese weit mehr sind als bloße Werbeclips für Künstler:innen. Vielmehr handelt es sich um eine eigenständige Kunstform, die tief in die zeitgenössische Medienkultur eingebettet ist.

Mit seinem interdisziplinären Ansatz stellt Korsgaard eine Brücke zwischen Musik- und Medienwissenschaft her und liefert eine systematische Analyse der post-millennialen Entwicklung des Musikvideos. Besonders wichtig ist sein theoretischer Rahmen zur Audiovisualität, der es ermöglicht, Musikvideos nicht nur als visuelle Werke, sondern als komplexe mediale Phänomene zu verstehen. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung und der zunehmenden Hybridisierung audiovisueller Medien bleibt die Auseinandersetzung mit Musikvideos auch in Zukunft ein zentrales Thema in den Kultur- und Medienwissenschaften. Korsgaards Arbeit bietet eine fundierte Grundlage für weitere Forschungen und eröffnet neue Perspektiven auf ein Medium, das trotz seiner omnipräsenten Verfügbarkeit oft unterschätzt wird.

Literatur

Korsgaard, Mathias Bonde. Music Video After MTV: Audiovisual Studies, New Media, and Popular Music. New York: Routledge, 2017.

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