#35 – Intro überspringen – Die Rettung der Titelsequenz

2017 führte Netflix die Funktion Intro überspringen ein. Viele weitere Streaming Plattformen wie Amazon Prime, Disney+ oder Apple TV+ folgten dem Beispiel von Netflix und heutzutage findet man kaum einen Streaming Anbieter, welcher die Funktion nicht anbietet. So ist es kein Wunder, dass viele Stimmen wie unter anderem Lance Richardson diese Funktion als Bedrohung für die Titelsequenz sehen, denn wer schaut noch den Vorspann, wenn man sofort zur Handlung vorspulen kann? Wozu existiert die Titelsequenz im Streamingzeitalter noch? (vgl. Dosser 2022, S.39).

Tatsächlich haben Zuschauer:innen schon bevor es die Funktion des Intro überspringen Nutzen von der Vorspultaste genommen. Beispielsweise erklärt Annette Davidson, dass Zuschauer:innen von Serien mit dem Aufkommen von DVD-Boxen und der Möglichkeit Serien aufzunehmen oft die Titelsequenz übersprungen haben, indem sie vorgespult haben. Heutzutage hat sich das Verhalten der Zuseherschaft nicht geändert. Nur das Vorspulen durch die Funktion Intro überspringen wurde weitaus erleichtert (Dosser 2022, S.39).

Doch um zu verstehen, weshalb Zuschauer:innen so gerne die Funktion nutzen, muss man sich das Konsumverhalten und den Kontext vor allem des Serienkonsums anschauen. Früher war man vom Zeitplan des TV-Senders abhängig, wie lange man dazu brauchte eine gesamte Staffel einer Serie zu sehen. Mit dem Aufkommen von DVD-Boxen mit der gesamten Staffel und der Option einzelne Folgen aufzunehmen, änderte sich die Gebundenheit des Publikums an den Spielplan des TV-Senders. Nun konnten die Zuschauer:innen selbst darüber entscheiden wann und wie lange sie eine Serie ansehen wollten. Der Begriff des Binge-watchings war geboren (Dosser 2022, S.39f). 

Binge-watching

Viele Medienwissenschaftler:innen mit Spezialisierung auf Fernsehen und Serien haben sich dem Phänomen des Binge-watchings angenommen. Doch was versteht man unter Binge-watching? (vgl. Dosser 2022, S.39).

Für Amanda Lotz bedeutet Binge-watching, das Verhalten, wenn man alle Folgen einer Staffel in mehreren Stunden oder Tagen – also in einem sehr kurzen Zeitraum – durchschaut. Christopher M. Cox erweitert diese Definition mit der Behauptung, dass es nicht nur um die Art des Fernsehens geht, sondern vielmehr darum wie jemand konsumiert. Somit geht es bei Binge-watching weniger um die Anzahl an Folgen, die man sich ansieht, sondern um die Kontrolle, welche das Publikum darüber hat, wie sie eine Serie konsumieren wollen (vgl. Dosser 2022, S.39f).

Wie beim klassischen Fernsehen geht es immer noch um den Audience FlowTelevisual Flow, Programming Flow oder Flow (zu deutsch Zuschauerfluss). Beim klassischen Fernsehen geht es darum, zu schauen wie TV-Sender durch die geschickte Integrierung von einzelnen Elementen, wie einzelne Folgen, Filme oder Werbung das Publikum bei sich behält. Im Streaming-Bereich geht es geht vielmehr darum, wie durch verschiedenste Maßnahmen die Zuseher:innen aktiv in den Serien und Filmkonsum eingreifen können. Auch interessant ist es sich genauer anzusehen, welchen Effekt Binge-watching auf den Flow hat (vgl. Dosser 2022, S.40).

Max Dosser bezieht sich in seinem Artikel auf Rick Altman, welcher neben dem Programming Flow, den Begriff des household flow (zu deutsch Haushaltsverhalten) einführt. Darunter versteht Altman folgendes: “how viewers are seldom exclusively watching television but rather are doing things around their homes while television plays” (Dosser 2022, S.40). Des weiteren führt Altman an, dass beispielsweise durch den wiederkehrenden Serien-Jingle auf Audioebene, abgelenkte Zuseher:innen wieder aufmerksam werden (vgl. Dosser 2022, S.40).

Titelsequenzen führen behutsam in die Handlung und in den Zustand des Serien- und Filmeschauens ein. Doch hauptsächlich beim Binge-watching von Serien, können Vorspänne die Zuschauer:innen vielmehr aus der narrativen Handlung zehren, beziehungsweise ist die Einführung in die Welt der Serie nicht mehr nötig, da das Publikum sich bereits in ihr befindet. Somit macht die Funktion des Intro überspringens die Übergänge von Folge zu Folge nahtloser – den Fluss des Serienschauens ungestörter. 

Die Titelsequenz lebt weiter

Schaut man sich die Entwicklung des klassischen Serienvorspanns an, kann man einen Trend beobachten: die Vorspänne wurden immer kürzer. So war beispielsweise der Vorspann von der ersten Staffel von New Girl (2011-2018) viel länger als in den restlichen Staffeln. Die Einführung der Funktion des Intro überspringens hat dem Stellenwert der Titelsequenz ebenfalls auf erstem Blick nicht viel geholfen. Trotzdem lebt die Titelsequenz weiter, doch warum (vgl. Dosser 2022, S.45f)?

Das weitere Bestehen der Titelsequenz im Zeitalter des Streamings hat mehrere Gründe. Ein Grund wurde schon angesprochen: die Funktion als Marker für den Beginn oder Ende einer Folge. Oft läuft eine Serie im Hintergrund, wenn Zuschauer:innen sich eigentlich mit etwas anderem beschäftigen, wie zum Beispiel dem Haushalt. Ihr Hauptfokus liegt dabei nicht vollkommen auf der Serie. Auch beim aktiven Binge-watching tendieren Personen dazu gedanklich gelegentlich abzuschweifen. Deshalb hilft die wiederkehrende Titelsequenz dabei, Personen wieder auf den Inhalt oder den Fakt des Endes oder Anfangs einer neuen Folge zu informieren. Ebenfalls ist sie der Indikator, dass das Publikum wieder aktiv werden muss, sei es den Intro überspringen-Knopf zu drücken oder die aktive Entscheidung mit dem Serienschauen aufzuhören (Dosser, S.46).

Ein weiterer Grund ist die Funktion der Titelsequenz als Prestige-Indikator der Serie. Für diese Funktion muss man sich etwas mehr mit der Geschichte des Serienvorspanns auseinandersetzen. Wie bereits erwähnt wurden ab ca. den 2000er Jahren die Serienvorspänne immer kürzer. Ebenfalls relevant, in den U.S.A. gibt zweierlei Fernsehanbieter: Broadcast-Netzwerke und Kabel-Netzwerke. In einem Versuch sich von der Konkurrenz abzuheben, begannen die Kabel-Netzwerke, wie HBO, längere und hochwertigere Titelsequenzen für ihre Serien zu verwenden. Beweggrund dafür war, dass Vorspänne in Broadcast-Netzwerken beinahe obsolet waren, aber hochwertige Titelsequenzen waren immer noch ein fixer Bestandteil in der prestigeträchtigen Filmbranche. Mit der Integrierung von eindrucksvollen Titelsequenzen wollte das Kabel-Fernsehen aussagen: Wir sind mehr als Fernsehen. Diese Mentalität wurde von Streaming-Anbietern übernommen (vgl. Dosser 2022, S.45).

“(…) the title sequence on a portal can signal a different experience from the actual series, highlighting how the title sequences for Netflix’s The Ranch (2016–2020) and One Day at a Time (2017–2020) are associated with more “prestigious” television as opposed to the multicamera sitcoms they actually are. This illuminates how important title sequences have become in denoting the quality of the series and, by extension, the network or portal” (Dosser 2022, S.46).

Wie bereits das Zitat illustriert, können sich traditionell gesehene „minderwertige“ Serienformate durch die Integrierung von einer hochwertigen Titelsequenz als besser profilieren, als sie im klassischen Sinne eigentlich wären. Deshalb ist es Streaming-Anbietern wie Netflix wichtig, auch bei den eigens produzierten Serien und Filmen, die Titelsequenz als Qualitätsmerkmal zu behalten. Schließlich kann jeder und jede Nutzer:in selbst darüber entscheiden, ob sie die Titelsequenz ansehen möchte oder nicht (vgl. Dosser 2022, S.46). Aber allein der kurze Moment, den man dazu benötigt, um auf den Intro-überspringen-Knopf zu drücken, schindet bei den Nutzern und den Nutzerinnen einen Eindruck über die darauffolgende Serie. 

Quellenverzeichnis

Dosser, Max: Streaming’s Skip Intro Function as a Contradictory Refuge for Television Title Sequences. In: The Velvet Light Trap, vol. 90, 2022, p. 38-50. Project MUSEhttps://muse.jhu.edu/article/862283

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