Musikvideos sind ein fester Bestandteil der modernen Musikkultur und beeinflussen die Wahrnehmung und das Erleben von Musik auf vielfältige Weise. Die Studie von Johanna N. Dasovich-Wilson, Marc Thompson und Suvi Saarikallio mit dem Titel Exploring Music Video Experiences and Their Influence on Music Perception (2022) bietet eine detaillierte Untersuchung darüber, wie Musikvideos die Interpretation, emotionale Reaktionen und Erinnerungen an Musik beeinflussen.
Hintergrund und Zielsetzung der Studie
Dasovich-Wilson et al. (2022) setzen sich mit der Frage auseinander, warum und in welchen Situationen Menschen Musikvideos konsumieren und welche psychologischen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Während frühere Studien die Rolle von Musik in Filmen untersucht haben (Cohen 2001; Boltz 2004), wurde das Medium Musikvideo bislang wenig erforscht. Die Autoren argumentieren, dass Musikvideos nicht nur der Promotion dienen, sondern eine eigenständige Kunstform darstellen, die das musikalische Erlebnis tiefgreifend verändern kann.
Methodik
Die Studie basiert auf einer qualitativen Analyse von Online-Fragebögen, die von 34 Teilnehmenden mit einem Durchschnittsalter von 22,4 Jahren ausgefüllt wurden. Die Forschenden entwickelten ein theoretisches Modell, das den Musikvideo-Konsum in vier Phasen unterteilt: Intention, Attention, Reaction und Retention (IARR-Modell). Diese Phasen beschreiben den Entscheidungsprozess für das Ansehen von Musikvideos, die Wahrnehmung während des Betrachtens, emotionale Reaktionen sowie die langfristigen Auswirkungen auf die Musikwahrnehmung.
Ergebnisse
1. Intention (Absicht)
Die Entscheidung, ein Musikvideo zu schauen, wird von emotionalen, kognitiven und sozialen Faktoren beeinflusst. Viele Teilnehmende gaben an, dass sie Musikvideos zur Stimmungsregulierung nutzen oder um mehr über die Bedeutung der Lieder zu erfahren. Andere nannten soziale Einflüsse, wie Empfehlungen von Freund:innen oder Trends in sozialen Medien (Dasovich-Wilson et al. 2022, 8).
2. Attention (Aufmerksamkeit)
Während des Betrachtens von Musikvideos lenken unterschiedliche Faktoren die Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen. Die Befragten beschrieben, dass visuelle Elemente wie Farbgebung, Schnitttechnik oder Synchronität mit der Musik entscheidend für das Erleben des Videos sind. Auch narrative Strukturen, also ob das Video eine Geschichte erzählt, beeinflussen die Wahrnehmung erheblich (Dasovich-Wilson et al. 2022, 10).
3. Reaction (Reaktion)
Emotionale Reaktionen auf Musikvideos variieren stark. Während einige Teilnehmende berichteten, dass Musikvideos ihre emotionale Verbindung zu einem Lied vertieften, empfanden andere bestimmte Videos als irritierend, insbesondere wenn sie nicht mit ihrer persönlichen Interpretation des Songs übereinstimmten. Dies deutet darauf hin, dass Musikvideos nicht nur verstärkend, sondern auch überformend auf die Musikwahrnehmung wirken können (Dasovich-Wilson et al. 2022, 11).
4. Retention (Speicherung und langfristige Wirkung)
Ein Schlüsselergebnis der Studie ist, dass Musikvideos langfristige Auswirkungen auf das Gedächtnis und die Interpretation eines Songs haben. Viele Befragte gaben an, dass sie beim erneuten Hören eines Songs automatisch an Szenen aus dem dazugehörigen Musikvideo denken. Diese visuelle Gedächtnisverknüpfung kann das emotionale Erleben der Musik nachhaltig verändern (Dasovich-Wilson et al. 2022, 12).
Bedeutung der Ergebnisse
Die Ergebnisse der Studie bestätigen, dass Musikvideos weit über die bloße visuelle Begleitung eines Songs hinausgehen. Sie beeinflussen die emotionale Wirkung, die kognitive Verarbeitung und die langfristige Erinnerung an Musik. Das IARR-Modell bietet eine nützliche theoretische Grundlage, um die komplexen Interaktionen zwischen Musik, Bild und individuellen Hörerfahrungen besser zu verstehen.
Ein interessanter Aspekt ist, dass Musikvideos nicht immer positiv wahrgenommen werden. Einige Teilnehmende berichteten, dass Musikvideos ihre persönliche Beziehung zu einem Song veränderten oder sogar beeinträchtigten, wenn das visuelle Konzept nicht mit ihrer eigenen Interpretation übereinstimmte. Dies deutet darauf hin, dass Musikvideos nicht nur als Verstärker von musikalischen Emotionen fungieren, sondern auch als kognitive Umdeutungsmechanismen wirken können.
Fazit
Die Studie von Dasovich-Wilson et al. (2022) zeigt, dass Musikvideos eine bedeutende Rolle in der Musikwahrnehmung spielen. Durch das IARR-Modell wird deutlich, dass die Entscheidung, ein Musikvideo anzusehen, stark von emotionalen, sozialen und kognitiven Faktoren abhängt. Die visuelle Gestaltung beeinflusst die Wahrnehmung eines Songs erheblich, und diese Wirkung kann langfristig erhalten bleiben. Damit liefert die Studie wertvolle Impulse für die Musikpsychologie sowie für die Musik- und Medienindustrie.
Literatur
Boltz, Marilyn G. 2004. „The Cognitive Processing of Film and Musical Soundtracks.“ Memory & Cognition 32 (7): 1194-1205.
Cohen, Annabel J. 2001. „Music as a Source of Emotion in Film.“ Music and Emotion: Theory and Research, hrsg. von Juslin, Patrik N. und John A. Sloboda, 249-272. Oxford: Oxford University Press.
Dasovich-Wilson, Johanna N., Marc Thompson und Suvi Saarikallio. 2022. „Exploring Music Video Experiences and Their Influence on Music Perception.“ Music & Science 5 (1): 1-18. https://doi.org/10.1177/20592043221117651.